„Ein neues Gespenst geht um in Deutschland – das Gespenst der Unterschicht…“
Es macht einen sonderbaren Sinn, zur Einleitung ein Zitat aus dem kommunistischen Manifest zu modifizieren, weil es zum einen den möglichen klassenkämpferischen Aspekt des neuen Modewortes „Unterschicht“ betont, zum anderen aber eine Analogie zum „Gespenst des Kommunismus“ insofern durchscheinen lässt, als der neue und zugleich doch so alte Begriff der Unterschicht ähnlich diffus und nebelhaft gebraucht und verstanden wird, wie der des Marxismus in seinen Anfängen.
Sprache ist ein ganz außergewöhnliches Werkzeug.
Sie kann ein filigraner, wohl nuancierter Pinselstrich in den Händen eines Meisters sein, aber zugleich auch über diverse Abstufungen zur Waffe in den Händen intelligenter und damit ungemein gefährlicher Agitatoren mutieren, bei denen das Zusammentreffen von Intelligenz, Sprachvermögen und Skrupellosigkeit eine kritische Masse der Manipulation ergibt, welche Gesellschaften zu untergraben und Regierungssysteme hinwegzuspülen vermag.
Setzt man sich mit diesem neuen Unwort einmal genauer auseinander, so muss auffallen, dass seine Anstößigkeit weniger im Begriff selbst, sondern vielmehr in dessen Gebrauch und dem Kontext geborgen ist, in dem dieses Wort verwendet wird.
In der begrifflichen Triole „Oberschicht-Mittelschicht-Unterschicht“ hat es den einfachen Charakter einer begrifflichen Abgrenzung gesellschaftlicher Schichten und erscheint wenig abschreckend, zumal sich hier zunächst niemand persönlich angesprochen fühlen muss.
Wird es jedoch alleinstehend gebraucht, ohne das Gerüst der ihm verwandten Begriffe, so stellen sich plötzlich Assoziationen ein, die es z.B. mit dem Begriff des „Untermenschen“ verbinden, und die ungute Folgen für die Debatte über das eigentliche Problem haben, in deren Verlauf dieses Wort überhaupt zu unnötiger und zweideutiger Berühmtheit gelangt ist.
Witzigerweise funktioniert eine analoge Triole zu der eingangs erwähnten ganz und gar nicht:
ein Übermensch ist etwas ganz anderes als das genaue Gegenteil des Untermenschen, und ein „Mittelmensch“ existiert schon gar nicht und hat mit dem Ersatzbegriff des „Durschnittsmenschen“ auch nur ein Surrogat, das sich in seiner Betonung erheblich von einer Begriffsverwandschaft zum Untermenschen distanziert.
In der Debatte über dieses neue Unwort, welches unter dem Deckmantel vermeintlich unverblümter Nennung von Ross und Reiter des offensichtlich nicht mehr wegzudiskutierenden Armutsproblems daherkommt werden wir alle das kollektive Opfer eines sprachlichen Trends unserer Zeit, nämlich der „Verschlagwortung“ komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge.
Initiiert und beschleunigt durch den meistenteils unsäglichen sprachlichen Tenor der Boulevardjournaille, werden wir zum Opfer einer Reduzierung der Wurzeln unserer Meinungsbildung auf Parolen – was die latente Gefahr einer zunehmenden Verarmung unserer Sprache und damit unseres Denkens auf das Niveau totalitärer Regime in sich birgt.
Wir täten gut daran, unser Augenmerk mehr auf die sachlichen und um Objektivität bemühten Inhalte anspruchsvoller journalistischer Arbeit zu legen und sollten weniger dem bequemen Impuls nachgeben, der uns meinen lässt, dass das Überfliegen der größten Schlagzeilen am Kiosk auf unserem Arbeitsweg dazu angetan sein könnte unsere politische Meinungsbildung auf ein gesundes Fundament zu stellen.
Nur so können wir der schleichenden Gefahr entgehen, dass uns jene agitatorisch ausmanövrieren, die uns aus persönlicher Betroffenheit, weltverbesserlichem Übereifer, oder aus metallisch kaltem politischen Kalkül auf ihre Seite ziehen und instrumentalisieren wollen.
Denn wenn uns eines klar sein sollte, so ist es die Einsicht, dass kein politisch-soziales Ding in unserer modernen Gesellschaft von eindimensionaler Struktur ist.
Die diversen Facetten und Betrachtungswinkel eines solchen Dinges aus einer Bequemlichkeit des Denkens heraus auszublenden und zu ignorieren, macht den Menschen geistig arm und gefährdet die Gesellschaft weitaus mehr, als das gelegentliche Auf- und wieder Abtauchen von politischen Ex-und-Hopp-Begriffen, deren bedeutungstechnische Halbwertszeit schon alleine durch die Schnelllebigkeit der heutigen Zeit und ihrer Nachrichtenwelt limitiert ist.