Denken Gehirn Grübeln

Ich denke einfach zuviel.

Schon morgens fängt es an. Kaum erwacht, jagt mir ein Gedanke durch den Kopf, vollführt wilde Kapriolen, schlägt erst Rad, dann Schaum in meinem Hirn, und bildet bereits auf dem kurzen Weg ins Bad ungehemmt metastasierende Assoziationsketten, die sich erst im erlösenden Gefühl beim Abschlagen des morgendlichen Wassers wieder in Wohlgefallen auflösen.

Sobald jedoch das verzückte Lächeln während meines stoffwechselbedingten Canossaganges gewichen ist, überfallen mich wieder jene Geister, die mir manchen Tag zur Hölle machen.
Ich kann mich mal wieder nicht entscheiden: Lyrikbändchen, Schachzeitschrift, oder das neueste Merkheft von 2001 – ein Minütchen bleibe ich immer, um die Nacht langsam aus mir herausfließen zu lassen.

Während ich aber noch wäge und darüber nachdenke, welche Art von Literatur, aus welchen Gründen mir die ersten Minuten des Tages versüßen soll, meldet sich die Lust aufs tägliche Ritual meines ersten aromatischen Heißgetränkes. Auf dem Weg in die Küche beschäftigt mich der Gedanke, ob ich mich für den neuesten Irving zum Sonderpreis erwärmen möchte, den ich bei einem flüchtigen Blick ins frühstücksbrettchengroße Prospekt des bekannten Frankfurter Versenders erspäht habe, werde aber jäh abgelenkt von der Überlegung, ob es Sinn macht, fair gehandelten Bohnentee zu trinken, während die billige Kaffeemaschine irgendwo in Asien von bis aufs Blut ausgebeuteten Buddhisten zusammengeschraubt wird.

Aah, das tut gut. Das schwarze Gold rinnt meine Kehle hinunter und meine Metaebene stellt auf dem Sofa überrascht fest, dass man gleichzeitig im Oberstübchen darüber sinnieren kann, ob Martin Heidegger Recht hat, wenn er behauptet, die Naturwissenschaft denke nicht und solle das auch nicht, während man im Kellergewölbe damit beschäftigt ist, seine Kleinodien von einem unerwartet aufgetretenen Jucken zu befreien.

Unwillkürlich kommt mir ein Gedichtanfang in den Sinn:

Es war einmal ein Breitmaulfrosch,
der gerne seine Fröschin drosch.
Die, weil sie die Schmerzen scheute,
wenn ihr Lurch sie wieder bläute…

Ich komme aber nicht mehr dazu, dieses Meisterwerk zu beenden, weil die Frühstücksfrage ansteht. Ich schiebe eine Portion Nudeln von gestern in die Mikrowelle, weil ich mich wegen des Problems, warum Marmelade und Käse, trotz ihrer offenbaren Unterschiede in Geschmack und Zusammensetzung, ähnlich fett machen, nicht für eines von beiden entscheiden kann.

Eigentlich wollte ich ja laufen gehen und etwas für meine Gesundheit tun, aber wenn ich mich schon nicht zum Sport aufraffen mag, kann ich ja wenigstens die Kohlenhydrate zu mir nehmen, die ich normalerweise beim Joggen verbrennen würde. Leider meldet sich umgehend mein schlechtes Gewissen und pöbelt meinen inneren Schweinehund an, dass 300 kcal weniger verbrannt, und 600 kcal zusätzlich zu mir genommen, mehr als die halbe Tagesration eines Bürohengstes wie mir ausmachen, und dass mir für den Rest des Tages bestenfalls noch zwei Zwiebackscheiben mit Diätkäse und eine Flasche alkoholfreies Bier zustehen.

Bevor ich noch merken kann, dass an dieser mathematiknobelpreisverdächtigen Berechnung etwas faul sein muss, torpediert mich die moralische Überlegung, ob meine Exfrau meinem Sohn das Sonntagsfrühstück versagen darf, weil der sich wegen eines PC-Spiels, das ihn gerade an den Bildschirm fesselt, weigert, beim Bäcker um die Ecke Brötchen zu holen. Gibt es überhaupt einen Nobelpreis für Mathematik?

…schaffte sich als neuen Mann
einen Brontosaurus an…

Mein Kaffee ist alle, und auf dem Weg zum plastikgewordenen Sinnbild kapitalistischer Unterdrückung in kommunistischen Staaten fühle ich, dass ein bisschen Morgensex nicht schlecht wäre, wenn ich nicht gerade meinen Tag alleine beginnen müsste. Ohne es verhindern zu können, fragt sich mein Gehirn, was wohl Sex mit Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer zu tun haben könnte – antwortet sich aber sofort selbst, dass es sich mit der Erotik so verhält, wie mit Tut Tur dem Scheinriesen aus der Puppenkiste, der umso kleiner und unbedeutender wird, je näher man ihm ist, und erst der aus der Ferne riesig und ehrfurchtgebietend aussieht.

Warum denkt eigentlich jeder zuerst an die Puppenkiste bei Jim Knopf, und nicht an das Buch von Michael Ende, das überhaupt erst die Grundlage fürs Marionettenspektakel gewesen ist? Mir kommt Fuchur, der Glücksdrache in den Sinn, und ich bin mir plötzlich wieder ganz sicher, dass man die Verfilmung eines Fantasyromans nicht sehen sollte, wenn man das Buch noch lesen möchte. Irgendwie sehen alle Figuren der Geschichte dann so aus wie im Film und man fragt sich kopfschüttelnd, warum der Roman nicht den Vorgaben des Films folgen will.

Ich bemerke, dass ich offenbar gerade mein Bedürfnis nach Streicheleinheiten mit film- und literaturwissenschaftlichen Gedankengängen sublimiere, und phantasiere (schreibt man das nun mit „ph“, oder „f“? Ohnehin ist die ganze Rechtschreibreform ein Zugeständnis an die Pisageneration…), in Wien mit Siegmund Freud im Kaffeehaus bei einer Melange zu sitzen und über die Psychoanalyse zu schwadronieren, während Jean Paul Sartre in Paris im „Deux Magots“ auf mich wartet, weil wir die Frage des reflexiven Bewusstsein bisher noch nicht abschließend klären konnten. Überhaupt ist es blöd, am Anfang des 21 Jahrhunderts zu leben und sich noch nicht von einem Ort zum andern beamen zu können, was aber andererseits wieder die Tourismusindustrie schädigen und einen Haufen Arbeitsplätze kosten würde.

…Der Frosch sah ein, das Aggressive,
ist seine letzte Perspektive…

Heute müsste ich eigentlich die Umsatzsteuer fertig machen, mein Duschgel ist alle, und was passiert eigentlich mit meinem Leasingvertrag, wenn OPEL über den Jordan geht?

Seit ich mich aus den Kissen geschält habe, sind gerade mal 20 Minuten vergangen und ich habe schon wieder viel zu viel gedacht und zu wenig gemacht. Überhaupt wäre ein bisschen Sex nicht schlecht, und mein Sohn schreibt heute eine Lateinklausur. Was wünscht er sich eigentlich zum Geburtstag außer einem I-Phone, dass sich noch nicht mal der Papa leisten kann? Morgen gehe ich auf jeden Fall joggen, weil ja keine Nudeln mehr da sind, und sterben möchte ich nicht unbedingt jetzt schon, um Freud und Sartre im Jenseits zu begegnen. Dafür ist später noch Zeit.

Wieder muss ich mich kratzen. Das Telefon klingelt – ich noch halbnackt – Exfrau dran – ob ich mit zum Sprechtag will. Der Gedanke an Sex verebbt, und bevor ich mich unter die Dusche begebe bleiben nur noch zwei Fragen: Warum ist das feuchte Toilettenpapier immer so schnell zu Ende, und kann die Mathematik die Unendlichkeit der Zahlenreihe mit rein mathematischen Mitteln beweisen?

Ich seufze und füge mich in den Tag…

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