Meditationen über den Tod

Ich meditiere nicht, aber ich habe seltene und kostbare meditative Momente.

Der unermüdlich kreisende Gedankenlöffel in der großen Rührschüssel meines Kopfes kommt für eine Weile zu Ruhe und ich kann mich einen Moment zurückziehen aus der permanenten Produktion von Sinn und Unsinn, die in meinem Gehirn mit der Konstituierung meiner Welt einhergehen.

In diesen Momenten aber strebe ich nicht nach einer Befreiung vom Denken an und für sich, weil ich akzeptiert habe, dass die beständige Reflektion ein Grundbestandteil meines Charakters und damit auch meiner Existenz ist. Vielmehr ziehe ich mich in mich zurück und lasse die vielfältigen Ströme in meinem Kopf sich zu einem ruhigen Fluss vereinigen, indem es mir gelingt das wilde Spiel der Assoziationen zu bändigen und zum Verstummen zu bringen.

Sonderbarerweise erlebe ich diese meditativen Momente am stärksten, wenn ich mich mit schwersten und schwierigsten Gedanken beschäftige. Oftmals beschäftigen mich weltanschauliche Probleme, durch die mein Denken und Empfinden in diesem intensiven Moment gegen jede Störung von innen gefeit sind.

Oder ich blicke in den Himmel, oder in die Wipfel der Bäume und sehe Figuren, betrachte das leichte Wogen der Baumkronen und mache meinen Frieden mit meiner Endlichkeit.
Diese Momente sind nicht primär Rückzug aus der Welt, sondern vielmehr ein reichhaltiges Mich-Versenken in die Existenz – eine Art, meinem Kern am nächsten zu kommen und zu spüren, dass dieser Kern über ein energetisches Band mit der Welt verbunden ist.

Manchmal konfrontiere ich mich mit dem Tod. Statt ihm in allerlei Gedanken zu Alltagsgeschäften und Trivialitäten auszuweichen, denke ich mich voran zu dem Tag, an dem er mich ereilen wird, und frage mich, wie sich dieser letzte Moment, sofern ich ihn wachen Sinnes erleben kann, anfühlen mag, welches Bewusstsein mich in jenem Augenblick überfallen wird, und auf wen ich an meiner Seite hoffen darf.

Diese Konfrontation hat, im Gegensatz zum beständigen Ausweichen vor dieser letzten Grenze im Alltag, bei allem damit einhergehenden Schrecken aber auch etwas Erfrischendes.

Sie ruft mich an, mein Leben als etwas Kostbares zu begreifen, und jedem einzelnen Tag einen besonderen Wert beizumessen. Sie fordert mich auf, mich im beständigen Abgleich des Strebens nach „Sinn“ mit den Erfordernissen der Alltäglichkeit zu stellen, und mich auf diesem Grat so zu bewegen, dass ich mich, im Angesicht meines letzten persönlichen Schrittes, weder resignierend und selbstmitleidig in ein weltabgewandtes Schneckenhaus zurückziehe, noch mich ohne Unterlass von den gurgelnden Wildbächen der Trivialität davonreißen lasse.

Im ersten Fall wird der Mensch weltfremd, eigenbrötlerisch und vereinsamt in seiner Verzweiflung, während im zweiten Fall das Leben dahinrauscht, bis das strudelnde Wasser in den letzten Ozean mündet, und man sich fragt, ob das schon alles gewesen sein soll, und warum man nicht mehr von den Dingen geschafft hat, die man sich früher als von existentieller Bedeutung erträumt hat.

Manches Mal, wenn ich mich in einer großen Menschenmenge befinde, überfällt mich der Gedanke, dass von all diesen verschiedenen Leben, das meine eingeschlossen, im besten Fall noch eine Erinnerung in den Herzen jener bleiben wird, die uns überdauern, die aber später wieder selbst vom großen Gleichmacher angerufen und zum finalen Stelldichein gebeten werden.

In dieser Vorstellung wird zugleich etwas Erschreckendes, wie auch etwas paradox Beruhigendes offenbar. Im Gegensatz zu fast allen Dingen des Lebens und der Unbestimmtheit der Schicksalswaage, hat der Tod eine sichere Gewissheit, die im krassen Gegensatz zur Unwägbarkeit der Lebensführung steht. Ein berühmter Philosoph nannte ihn einmal, verkürzt dargestellt, die letzte, unüberholbare, unübertragbare, allein zeitlich ungewisse Möglichkeit der Existenz, und in dieser „Unübertragbarkeit“ klingt schon an, dass er zwar als Massenphänomen unabweisbar, aber im Prinzip eine ganz persönliche Sache für jeden ist, die wir sprichwörtlich „letzten Endes“ nicht in der Hand haben, weil der Tod es ist, der uns in seiner Hand hat.

Aber das Beste aus ihm zu machen, kann nur im Leben gelingen, denn in ihm und nach ihm ist kein Tun und Machen mehr möglich, insofern er tatsächlich die menschlich letzte Möglichkeit ist.

Es ist, als seien wir in die weit geöffnete Hand es Todes geboren, die sich mit den Jahren langsam um uns schließt. Wir existieren im Licht des Lebens, in dem die Schatten von den sich langsam zusammenschließenden Fingern immer mehr werden, bis die Dunkelheit uns ganz umfasst.

Aber es kommt auch auf die innere Einstellung an: hört sich das eben Gesagte noch schwermütig und beängstigend an, so kann man eben diese Hand, die ja selbst nur eine Metapher für etwas anderes ist, auch als Bild für ein anderes Bild begreifen – als seien wir der Blütenstaub in einer Blüte, der Zeit hat sich auf den Weg in die Welt zu machen, Spuren zu hinterlassen und sich fortzupflanzen, bevor die Blütenblätter sich zur Nacht langsam schließen.

Paradoxerweise haben Literatur und Philosophie den Tod schon oft als den großen Schlaf begriffen, während sie ebenso gelegentlich den Schlaf, als eine Art kleinen Tod verstanden haben.
Und so finde ich Trost in einem Bild und in einem Wort, das im Alltagsgebrauch, gerade weil es das am wenigsten alltägliche Tun begleitet, einen negativen Beiklang hat.
So wie wir am Ende eines angefüllten Tages müde in die Kissen sinken, so glaube ich auch daran, dass wir im besten Sinne des Wortes „lebensmüde“ werden können und irgendwann, wenn auch nie freiwillig, so aber doch den letzten Schritt akzeptierend, gehen können.

Doch ist es mit der letzten großen Müdigkeit so, wie mit der Müdigkeit, die uns jeden Tag ereilt.
Wir können einfach erschöpft von sinnlosem Tun, wie an Marionettenfäden gezogen, ins Bett gezwungen werden und mit einem letzten Aufstöhnen der zerquälten Seele hinwegdämmern, oder aber, erfüllt von einem großen Reichtum des Gesehenen und Erlebten, mit einem befreienden Seufzer und vielen schönen Erinnerungen in einen tiefen, erlösenden Schlaf fallen.

Es gilt, aus dem Unausweichlichen das Beste zu machen. Aber das Beste dieses Unausweichlichen liegt eben nicht im Tod selbst, sondern im Davor des Lebens.

Schließen möchte ich mit einem Gedicht Rilkes, das mich immer sehr bewegt, wenn ich es lese:

Herbst

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

Ein Kommentar

  1. Lieber Thomas,
    vielen Dank für diesen meditativen Moment, den ich beim Lesen Deines Textes erleben durfte. Er hat mich sehr berührt.
    Sabine

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