Freier Wille

Freier Wille, oder nicht?

Wir Menschen sind es gewohnt jeden Tag Entscheidungen zu treffen. Schon der ersten Handlung des Tages, dem Aufstehen, liegt eine Willensentscheidung zu Grunde. Wir könnten ja auch liegen bleiben, den Arbeitstag Arbeitstag und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen.

Die freie Willensbildung ist vermutlich der Eckpfeiler, der die menschliche Existenz von der Instinkthaftigkeit des Tieres unterscheidet. Unser Leben besteht aus freien Wahl unter den Möglichkeiten, die jeden Tag an uns herantreten und die wir für uns entwerfen.

Natürlich hören wir uns selbst und andere oft sagen: „Ich kann das nicht weil…“, aber dieser Satz ist in den meisten Fällen ja nur eine Übersetzung eines: „Es hat keinen Sinn, das zu probieren, weil…“, was bedeutet, dass wir sehr wohl Anstrengungen in die angesprochenen Richtung unternehmen könnten, wenn wir wollten. Wir treffen lediglich die pragmatische Entscheidung, dass eine Handlung in diese Richtung deshalb sinnlos ist, weil das erwünschte Ergebnis nicht erreichbr scheint.

Aber auch hier spricht der freie Wille. Wir sind letztlich sogar in der Lage, schweren Herzens auf einen Weg zur Selbstverwirklichung zu verzichten, wenn wir diesen Weg als zu beschwerlich, oder das Ziel als unerreichbar ansehen. Ein anderer wiederum mag den Weg bereits als das Ziel betrachten und geht mutig voran – allen Erschwernissen und allen Zweifeln zum Trotz.

Interessanterweise setzen zwei wesentliche, aber grundsätzlich verschiedenen Weltanschauungen gleichermaßen auf den freien Willen als bestimmendes Element des Menschseins: das Christentum und der Existentialismus, wobei der zweite in der Auslegung Sartres ganz bewusst eine atheistische Philosophie sein soll.

Über das Christentum wissen wohl fast alle mehr, als über den Existentialismus – und auch die Rolle des freien Willens im christlichen Glauben ist weitläufig bekannt. Nur wenn der Mensch in seinem Handeln frei ist, hat er die Befähigung zum Guten und das Gute hat nur dann seinen Wert, wenn das Böse möglich ist. Das ist im Kern auch schon ein Ansatz des Theodiezeeproblems in der Theologie, bei dem sich die Frage stellt, warum ein guter Gott das Böse in der Welt zulassen kann.

Im Christentum gibt es Regeln von außen, aber wir sind frei diese zu befolgen, oder nicht.

Der Existentialismus hat eine andere Marschrichtung. Sartre zitiert einen Satz Dostojeweskis: „Wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt.“ und formuliert um diesen Gedanken herum das Konzept einer Ethik, das ganz ohne ein äußeres Regelwerk auskommt, und den Menschen brutal auf seine Eigenverantwortung wirft.
Für ihn sind wir im Handeln allein gelassen, nur auf unseren freien Willen verwiesen, mit dem wir in jeder Minute unseres Daseins aus den gegebenen Möglichkeiten auswählen, und eben auch mit den Konsequenzen unseres Handelns leben müssen.

Während jedoch die Religion die menschliche Freiheit als Gut und als Geschenk an den Menschen begreift, neigt sie Existenzphilosophie dazu, die Qual in der Wahl zu betonen. Der Mensch ist zur Freiheit verdammt – eine objektive Moral existiert nicht, und für alles, das wir tun, müssen wir die volle Verantwortung übernehmen.

Insofern ist der Existentialist freier als der Christ, weil im zweiten Fall zumindest klar ist, welches Verhalten von Gott erwünscht ist, und es nur gilt, den Verführungen süßer Sünden zu widerstehen, während im ersten Fall das Gute und das Böse gleich möglich sind, was dem Menschen eine äußere Leitlinie für dessen Handeln verweigert.

In der Wissenschaft mehren sich allerdings Zeichen, dass es mit dem freien Willen nicht so einfach bestellt ist, wie der Mensch entweder täglich stillschweigend voraussetzt, oder wie er es aktiv glauben mag, wenn er diese Grundfrage bedenkt. Neueste Ergebnisse der Hirnforschung legen nahe, dass jede unserer Handlungen im Vorfeld von physiologischen Hirnprozessen begleitet werden, die keine andere, als die gezeigte Handlung zulassen konnten, auch wenn wir subjektiv annehmen, eine Wahl gehabt zu haben.

Für diese Handlungsgrundlage gibt es aber auch Ursachen, die nicht allein biologischer Natur sind, die sich aber in der Schaltzentrale unseres Kopfes abbilden und verarbeitet werden. Dass das Gehirn auf einen Schmerzreiz mit Vermeidung reagiert ist natürlich verständlich, aber auch Erziehung und Sozialisation stellen ja Handlungsrahmen zur Verfügung, in denen wir uns bewegen können.

Im Kopf wägen wir mögliche Verhaltensweisen, sozial erlaubte, ebenso wie unerlaubte, ab, bevor wir zur Tat schreiten und oft glauben wir, dass gerade das Übertreten sozialer, oder anderer Verbote ein Zeichen für willentliches Handeln ist, weil es einen gewissen Mut und Überwindung kosten kann. Dabei übersehen wir aber zu leicht, dass uns ein anderer, vermutlich stärkerer Impuls, wie z.B. ein Lustempfinden, dazu bewogen haben, das andere, das vermeintlich „Falsche“ zu tun.

Der Hirnforschung gelingt es offenbar zur Zeit schon recht gut, bei einfacheren Lebensformen ein Verhalten über die dahinter liegenden physiologischen Prozesse zu verstehen, und es stellt sich sehr die Frage, ob das beim Menschen so ganz anders ist, mit dem Unterschied, dass dessen Komplexität natürlich das Verständnis der Prozesse erschwert, die aber dennoch unvermeidlich stattfinden.

Auch ein paar andere einfache Überlegungen können helfen zu verstehen:

wenn wir etwas tun, oder besser, getan haben, können wir in aller Regel Gründe dafür angeben, warum wir uns für unsere Handlung zum Nachteil einer anderen entschieden haben.
Gründe kommen aber nicht aus dem Nichts – sie liegen entweder in einem Bedürfnis, egal ob es sich um ein Grundbedürfnis, oder ein Lustempfinden handelt, denen man recht einfach eine physiologische Entsprechung zuordnen kann, oder folgen einer Abwägung, entweder praktischer, oder ethischer Natur, die aber wiederum natürlich auf persönlichen Angelegtheiten fußen.

Das gibt dem ganzen Prozess der Entscheidungsfindung aber einen kausalen, sich zwangsweise über Ursache und Wirkung entwickelnden Anstrich.

Auch muss man sich sehr fragen, ob das Gefühl der Möglichkeit von A oder B vor der Handlung nicht rein subjektiv ist, wenn der später bereits vollzogene Akt doch scheinbar erweist, dass streng genommen nur eine Möglichkeit bestand, weil wir eben Gründe dafür angeben können, die schwerer wogen als jene, die für die Alternative sprachen.

Ohne mich da festlegen zu wollen, liegt also der Verdacht nahe, dass das Grundprinzip des Menschseins und die Basis seines Erfolges in der Natur nicht der freie Wille selbst ist, sondern nur die Illusion desselben, und dass diese Illusion einer der Gründe dafür ist, dass der Mensch (obwohl prinzipiell genauso, aber eben nur komplexer als programmiert, als ein Tier), nichts weiter als eine Maschine aus biologisch abbaubaren Bauteilen ist.

All das hätte natürlich auch weitreichende ethische Folgen, z.B. für das Strafrecht, das ja auch bei bestimmten Delikten schon die mangelnde „Steuerungsfähigkeit“ eines Delinquenten berücksichtigt. Was wäre, wenn jeder Täter sich unter den „Schutz“ einer gar nicht gegebenen Willensfreiheit zurückziehen könnte?

Würde der Richter dann urteilen und sagen: „Auch das Volk hat keinen freien Willen und unterliegt darin dem Zwang sich schützen zu müssen. Der Angeklagte wird nicht zur Strafe, aber zum Schutz der Allgemeinheit verurteilt, in der Hoffnung, ihn in der Form umprogrammieren zu können, dass er keine Gefahr mehr für die Menschen darstellt.“ ?

Ein Kommentar

  1. Hirnforscher haben m.W. noch nie den realen Vorgang der Willensbildung untersucht, noch weniger natürlich die einzelnen Schritte dabei, etwa die, sich die Handlungsalternativen klar zu machen, die in einer Situation gegebenen oder möglich sind, sie in verschiedenster Hinsicht einzuschätzen und gegenseitig abzuwägen, sie zu persönlichen Zielen in Beziehung zu setzen, die Schritte ihrer evtl. Umsetzung zu bedenken und ihre absehbaren Folgen, sie miteinander in ihren Vor- und Nachteilen zu vergleichen und das Für und Wider abzuklären, dann nach irgendwelchen Kriterien eine evtl. Vorauswahl und irgendwann schließlich eine ‚endgültige‘ Wahl zu treffen, die Umsetzung der gewählten Handlungsalternative „in die Tat“ dann evtl. zu planen und schließlich auch noch all die dabei zu berücksichtigenden Einzelheiten „im einzelnen“ festzulegen…

    Hirnforscher theoretisieren stattdessen viel lieber über eine, wie Gerhard Roth das immer ausdrückt, „starke“ Auffassung von Willensfreiheit. Darunter verstehen sie eine Art spukhaften Wesens, das sie sich an nichts gebunden und insofern absolut ‚frei‘ vorstellen, genannt „Wille“, von dem sie behaupten, wir würden normalerweise alle glauben, dass dieser ominöse „Wille“ uns veranlassen oder bewegen würde zu tun, was wir (nur) glauben, tun zu wollen. (Die Illusionsthese müsste eigentlich hier ansetzen! Nebenbei bemerkt ist m.W. noch kein Hirnforscher soweit gegangen, auch „den letzte Wille“ eines Menschen zur Illusion zu erklären, da mindestens hier offensichtlich ist, dass mit Wille normalerweise eine Willensbekundung oder Willenserklärung eines Menschen gemeint ist.)

    Soviel ich weiß, glaubt niemand außer derart forschen Hirnforschern, was die glauben, dass alle glauben. Jedenfalls habe ich weder im privaten Umfeld noch beruflich jemals jemanden kennengelernt, der glaubt zu wollen, was sein Wille will, dass er will, was er will. Wenn Hirnforscher gegen einen derartigen selbstgeschaffenen Unsinn Sturm laufen, rennen sie weit offene Türen ein, und schießen auf eine Vogelscheuche, die sie selbst geschaffen haben.

    Manche von ihnen gehen aber noch weiter: sie geben zwar als selbstverständlich zu, dass es „Handlungsautonomie“, auch „Erwägungsprozesse“ und sogar „Entscheidungen“ gebe. Doch behaupten sie gleichzeitig, man wiege sich in einer Illusion, wenn man glaubte, hierbei ‚frei‘ zu sein; denn als Naturwissenschaftler müsse man von einem durchgehenden Determinismus der Welt oder Wirklichkeit ausgehen!

    Muss man nicht und tut auch kaum ein Naturwissenschaftler, jedenfalls keiner, der argumentiert, andere mit „guten Gründen“ zu überzeugen sucht, Widerlegungen akzeptieret (sofern er sich überzeugen lässt; Dogmatiker gibt es auch unter Naturwissenschaftlern), nach dem Richtigen sucht und das Falsche zu erkennen versucht. Das sind keine Naturkategorien, sondern unsere eigenen Setzungen wie etwa Mathematikregeln, die wir beim Rechnen beachten oder nicht, wie wir Gesetze beachten oder übertreten können und zwar in voller Absicht oder vollem Bewusstsein, aus eigenen Entschluss, aus freien Stücken oder eben freiwillig, wie wir umgangssprachlich dazu eben sagen.

    Die hier waltenden Verhältnisse können nicht durch Analyse von Gehirnvorgängen erforscht und geklärt werden. Das können Hirnforscher nicht einmal bei einfachstem Denken; dazu brauchen sie die Psychologie, die ihnen sagt, worum es dabei überhaupt geht. Schon gar nicht finden Hirnforscher ihre Begriffe durch ihre Forschung, sondern entnehmen sie aus unterschiedlichsten Quellen, wie der Wissenschaftsphilosoph Peter Janich in seinem jüngsten Buch „Kein neues Menschenbild – Zur Sprache der Hirnforscher“ gezeigt hat.*

    Ebenso kann auch nur psychologisch klar gemacht werden, wie wir dazu kommen, uns bewusst für etwas zu entscheiden statt „intuitiv aus dem Bauch heraus“ zu reagieren. (Leider wird bloßes Reagieren auch oft Entscheiden genannt und etwas zu begehren ein Wollen; die Ungenauigkeit umgangssprachlichen Geredes, auf das Hirnforscher auch oft hereinfallen,** macht es fast durchgehend nötig, besonderes Augenmerk auf den Sinn des Gemeinten zu richten.)

    Dass und wovon wir uns durch die „Bildung unseres Willens“, wie wir auch sagen können, frei machen, ist nicht einmal so schwierig zu sehen und einzusehen; ich habe das auf dem ersten deutschsprachigen Philosophy-Slam 2008 in Augsburg vorgetragen. Auf der Homepage zum Slam ist der Text bis heute immer noch nicht online gestellt worden; er ist stattdessen hier http://www.sprache-werner.info/Artikel_Kittel.1954.html zu finden (wie zwei weitere Texte zum Thema).

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    * http://www.suhrkamp.de/buecher/kein_neues_menschenbild-peter_janich_26021.html
    ** http://www.michael-funken.de/information-philosophie/philosophie/kittelzuroth.html

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