Suche Sinn

Die Welt ist ein Panoptikum – das ist für mich eine unumstößliche Tatsache. Ein buntes Kaleidoskop sonderbarer Gestalten bevölkert unseren Planeten und fristet sein existentiell kärgliches Dasein auf der Suche nach dem Sinn des Lebens.

Der Schmetterling

Nun ist die Suche natürlich keine einfache – manch einer glaubt, der Sinn fliege durch die Luft und kann eingefangen werden wie ein farbenfroher Schmetterling. Er jagt ihm nach, hascht nach ihm und kann ihn dennoch nicht fassen. Die anderen sehen sein Hüpfen und fröhliches Rudern mit den Armen und bedauern den armen Irren, der beständig den Bodenkontakt zu verlieren scheint und am Ende mehr wie eine plumpe Motte wirkt, die versucht selbst ein bunter Schmetterling zu sein.

Die Wühlmaus

Ein anderer glaubt den Sinn in der Erde zu finden. Er wühlt im Dreck und versucht dort, den Dingen auf den Grund zu gehen. Er sucht den Sinn in dem Teil der Welt, der von seinen Artgenossen mit Füßen getreten wird, die Finger wund vom Kampf gegen das Erdreich und die Nase schmutzig vom Stöbern im Unrat nach der ultimativen existentiellen Trüffel. Gemeinhin fühlt sich gerade die Wühlmaus der Motte überlegen, weil sie glaubt, die Welt verstanden zu haben und frei von Illusionen zu sein. Doch sie wühlt so lange, bis ihr die Kraft ausgeht und ein anderer ihr die Grube gräbt, in der ihr Sinn zu finden ist.

Der Ka(c)kadu

Ein dritter sucht den Sinn in sich selbst. Leider ist ihm auf der Suche nach höheren Einsichten in seinem Kopf nur allzu häufig die Verdauung im Weg. Es ist ziemlich schwierig, hochfliegenden Gedanken nachzuhängen, wenn ein Furz sich Bahn brechen möchte aus dem Kellergewölbe der Denkfabrik, die er zu sein glaubt, und ein darmatisches Inferno sich ankündigt, nach dessen Eintreten man glauben mag, das Ziel allen menschlichen Trachtens läge im vegetativen Nervensystem verborgen.

Der Bücherwurm

Ein weiterer glaubt ein ganz Schlauer zu sein. Er sucht den Sinn in Büchern. Diese haben den ganz unbestreitbaren Vorteil, weder hüpfen noch kriechen, noch beständig müssen zu müssen. Man kann zuhause auf dem Sofa sitzen, den Sinn studieren und einen Kaffee schlürfen. Existentialisten nehmen ihn „au lait“, trinken einen Pastis dazu und räsonnieren über den freien Willen, wenn sie sich nicht gerade ins Buch einer Motte, einer Wühlmaus oder eines Ka(c)kadu vergraben haben. Früher war der Bücherwurm der Klügste unter den Sinnsuchern – auch er konnte ihn zwar nicht finden, aber immerhin musste er sich dafür nicht verausgaben, oder sich vor den anderen zum Affen machen.

Wikipedia und Internet

Heutzutage sucht man jedoch den Sinn im Internet. Das ist sogar ziemlich praktisch, weil Wikipedia automatisch aktualisiert wird, wenn jemand etwas neues über den Sinn in Erfahrung gebracht hat. Außerdem ist Wikipedia objektiv und über jeden Zweifel erhaben. Die Motte, die Wühlmaus, der Kackadu und der Bücherwurm sind online und verfolgen gespannt die neuesten Tendenzen in der Sinnforschung, während fast alle nebenher auftretenden menschlichen Bedürfnisse über das gleiche Medium abgewickelt werden können. Für den kleinen Hunger zwischendurch bestellt man sich im Web seine Pizza Debilia, platziert sie neben dem Monitor und stellt überrascht fest, dass ein Vorteil der Lasermäuse neuster Generation darin besteht, dass sie auch auf verlaufenem Mozarella funktionieren.

Love and Sex aus der Retorte

Auch gelegentliche sexuelle und bei der Sinnsuche eher störende Anwandlungen können mithilfe einer Kreditkarte und flinken Fingern schnell aus der Welt geschafft werden. Sogar die Liebe lässt sich online finden, und ganze Beziehungen können mithilfe einer Webcam und eines Headset simuliert werden, was zumindest den unbestreitbaren Vorteil hat, dass man die Ausdünstungen des Partners nicht ertragen muss, und dass eheliche Gewalt eher keine Gefahr zu sein scheint. Man kann sich also ganz auf die Suche nach dem Sinn konzentrieren, der sich irgendwo hinter der Bildschirmdiagonale des heimischen Monitors zu verbergen scheint. Mithilfe von Maus, Tastur und Google Earth kann man die ganze Welt nach dem Sinn absuchen und sich in Internetforen mit anderen Usern über seine neuesten Fortschritte austauschen.

Eine schöne neue Welt

Nach einer Weile erfolglosen Suchens jedoch überfällt einen die Einsicht mit brachialer Gewalt: Man hat im Wald vor lauter Bäumen denselben vollständig übersehen, und den Sinn bereits gefunden, ohne es zu bemerken. Der Sinn soll uns ausfüllen, unser Herz begeistern und unser Leben bereichern. Er soll das verbindende Element zwischen unseren Handlungen sein, uns zu Höherem berufen und unser Handeln positiv bestimmen. Er soll die Zeit zwischen Leben und Tod interessant, wertvoll und glücklich machen und uns befähigen, ein besserer und glücklicher Mensch zu sein.

Doch all das haben wir längst gefunden und sind bereits auf wunderbarste Weise tief mit ihm verwoben: ein Hoch auf den Sinn des Lebens – ein Hoch auf das Sinnternet.

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